Auftauende Liebesschwüre – FAZ

Artikel aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.2015

AUFTAUENDE LIEBESSCHWÜRE

Von Ulrich Olshausen

Amerikanischer Gast der ersten Kategorie: Das hessische Landesjugendjazzorchester empfängt Dianne Reeves in Wiesbaden.

Dreißig Jahre lang sind das Landesjugendjazzorchester Hessen und sein Gründer Wolfgang Diefenbach nun zusammen. Bezahlt wird das Unternehmen vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Die Anforderungen an den Chef einer solchen qua Definition sich dauernd verändernden Versammlung (über 1800 Musiker haben die Band durchlaufen) sind eigentlich gar nicht zu erfüllen — pädagogisches Geschick, enorme Kenntnisse von dem, was an Repertoire da ist, und dem, was neu geschrieben werden müsste, die Reisen in alle fünf Kontinente. Und dann gilt es noch einen besonderen Balanceakt zu meistern: Für viele seiner wandernden Mitglieder ist das Orchester ganz klare Berufsvorbereitung mit den daraus sich ergebenden Ansprüchen; für andere die schönste Nebensache der Welt. Das Programm darf keinen überfordern, keinen enttäuschen. Diefenbach hat diese Spannung sehr geschickt damit immerhin etwas entschärft, dass er vor fünf Jahren eine Juniorband gründete, deren Mitglieder in das Hauptorchester hineinwachsen können oder auch nicht. Dazu gibt es seit sechs Jahren eine Vokalgruppe (auch mit eigenem Nachwuchs), in der sich professioneller Ehrgeiz und reinste Freizeitlust bestens vertragen.

Internationale Größen setzt Diefenbach seinen Jungs und immer mehr Mädchen (derzeit fünf) gern vor die Nase. Nat Adderley, Randy Brecker, Herb Geller, Madeline Bell und die New York Voices und als Partiturenschreiber James Morrison, Bob Mintzer und Manny Albam sind etwa schon gekommen. Zum Jubiläumskonzert im Wiesbadener Kurpark hatte Diefenbach nun einen besonders anspruchsvollen Gast geladen, die Sängerin Dianne Reeves, mit der er sich vor Jahren bei einem Zufallstreff in Südafrika verabredet hatte.

Dieser vielfach mit Grammys ausgezeichnete amerikanische Star erwies sich in der sorgsam eingerichteten Umgebung der Big Band als ein einmaliges Gesangswunder vom flötenden Mädchenklang in der Höhe bis zum tiefschwarzen Blues und Soul, von der Evergreen-Kultur bis fast schon zu Neuer Kammermusik, mit spektakulärem Einsatz (oder auch dem Weglassen) ihres wie ein eigenes Register steuerbaren Vibratos. Die zum Teil höchst anspruchsvollen Arrangements meisterte die Band vorbildlich — im Satz kaum mehr von reinen Berufsorchestern wie denen der ARD-Rundfunkanstalten zu unterscheiden und mit einzelnen Solisten schon auf dem reinen Profiniveau, etwa mit dem Altsaxophonisten Stephan Hoffmann, dem Schlagzeuger Julian Camargo und dem Trompeter Felix Blum, der in einem kubanisch orientierten Stück offenbar dem kubanischen Superstar Arturo Sandoval nacheiferte.

Dianne Reeves, die vor Rührung über so viel jugendliches Talent schon bei den Proben Tränen vergossen hatte, war enorm integrativ gestimmt, in den Ansagen und in den Begegnungen mit den Gesangsgruppen und allemal in einem total improvisierten Duett mit deren Tenor Christopher Klassen, den sie in schönster amerikanischer Nachtclubtradition der vierziger und fünfziger Jahre zu immer heftigeren Liebesschwüren auftaute. Dem Glückwunschständchen der begeisternden jungen Jazzer zu Diefenbachs Geburtstag (die Zahl wurde nicht verraten) wird sich jeder musikalische Mensch anschließen.

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